10 Wahrheiten über interdisziplinäre Doktorarbeiten

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Du hast dich entschlossen, eine interdisziplinäre Doktorarbeit zu schreiben? Herzlichen Glückwunsch und willkommen in einem Abenteuer voller Höhen und Tiefen!

Interdisziplinarität ist ein Buzzword, das sich viele Grad Schools, Institute und Forschungseinrichtungen auf die Fahnen schreiben. Dabei ist häufig nicht genau klar, was das eigentlich bedeutet, aber „Interdisziplinarität“ scheint jede Forschung aufzuwerten. Kein Wunder: wer interdisziplinär arbeitet, führt Fragen und Ergebnissen verschiedener Wissenschafts- und Forschungsbereiche zusammen. Deshalb umgibt den Begriff der Interdisziplinarität immer eine Aura des Besonderen, des Komplexen und des besonders Ambitionierten.

Vorweg sollte man noch einmal klarstellen, dass es nicht „DAS“ interdisziplinäre Projekt gibt. Stattdessen kann man sich Interdisziplinarität als Kontinuum vorstellen.  Interdisziplinäre Arbeiten reichen von klassischen Schnittstellenthemen (z.B. zwischen Philosophie und Literatur) über die Lösung einer Frage mit den Methoden einer anderen Disziplin (zum Beispiel Geotracking um zu untersuchen, wie sich soziale Gruppen in der Stadt bewegen) bis hin zu Arbeiten, die per se zwei verschiedene Fachbereiche vereinen (häufig bei Lehramtsdissertation, in denen Didaktik und ein „Sachthema“ miteinander verbunden werden).

Es ist in der Tat so, dass interdisziplinäre Arbeiten etwas ganz Besonderes sind! Hier kommen 10 Wahrheiten über eine interdisziplinäre Doktorarbeit, von denen ich die ein oder andere gern früher gewusst hätte!

1. Du musst bereit sein, dich auf Neues einzulassen

Bei so ziemlich jeder Diss ist die Anfangsphase ein riesiges Chaos. Bei interdisziplinären Projekten allerdings wird das noch potenziert. Gerade am Anfang musst du dich auf dieses Chaos einlassen – wild in alle Richtungen lesen, aberwitzige Methoden recherchieren, Theorien lesen, die allem widersprechen, was du bisher gelernt hast. Gerade in dieser Phase wäre es fatal, Ansätze oder Konzepte zu schnell zu verwerfen. Hier ist Flexibilität gefragt und die Bereitschaft, Unbekanntem und scheinbar Absurdem eine Chance zu geben ist der Schlüssel zum Erfolg.

2. Du darfst kreativ sein

Wenn du interdisziplinär arbeitest, hast du meistens keine Doktorarbeit, an der du dich orientieren kannst. Vielleicht hat genau den wilden Mix aus Disziplinen, den du anstrebst, noch niemand vor dir gemacht. Deshalb darfst – und musst – du kreativ sein. Du darfst hemmungslos in anderen Disziplinen nach Methoden suchen, die dich zum Ziel bringen, mögen sie noch so aberwitzig erscheinen. Du darfst Definitionen sammeln und diese wild kombinieren und kannst ganz frei überlegen, wie du deine Arbeit aufbauen willst.

3. Du kannst sehr viele Konferenzen besuchen

Ein Riesen-Vorteil von interdisziplinären Projekten: dein Thema lässt sich an wahnsinnig viele Konferenzen andocken! Während die mono-disziplären Kolleginnen vielleicht auf die eine Konferenz im Jahr hin fiebern, in die ihr Nischenthema passt, hat sich dein Bahncard 50 längst gelohnt: du kannst deine Diss mindestens auf jeder Fachtagung vorstellen, die an dein Thema angrenzt. Das ist eine tolle Chance, um Feedback zu deiner Arbeit zu bekommen und zu networken. Aber Vorsicht: jeder Konferenzbeitrag muss vorbereitet werden, und das kostet Zeit. Man darf nicht der Versuchung erliegen, wirklich JEDE Konferenz besuchen zu wollen, auf die sich das Thema zuschustern lässt. Sonst hat man nach 3 Jahren im schlimmsten Fall kaum etwas geschrieben.

4. Du wirst wenig Feedback bekommen, das dir wirklich hilft

In den meisten Kolloquien und Konferenzen wirst du eine Exotin oder Outsiderin sein. Das kann leider dazu führen, dass der Saal während deines Vortrags nicht so gut gefüllt ist. Außerdem kann es sein, dass wenig Fragen kommen, ganz einfach, weil sich viele Zuhörerinnen nicht kompetent fühlen, zu deinem Thema etwas zu sagen. Oft bekommt man dann viele Interessenfragen (was auch schön ist), aber leider bringen einen die inhaltlich nicht weiter. Genauso ist es in Kolloquien, in denen vermutlich die meisten anderen Teilnehmerinnen nur mit einem Teilaspekt deiner Arbeit vertraut sind. Auch da kann es sein, dass Feedback und Kritik nur zögerlich kommt oder vielleicht auch in die falsche Richtung geht.

5. Du brauchst ein dickes Fell

Das Problem bei interdisziplinären Arbeiten ist, dass jede Disziplin an deiner Arbeit etwas zu meckern haben wird. Den Juristen bist du nicht nah genug an den Gesetzen, die Diskurstheoretiker wollen, dass du das Völkerrecht als Diskurs in Frage stelle, die Politikwissenschaftler wollen Zahlen sehen, den Historikern ist der Konflikt verkürzt dargestellt. Und das schlimmste ist: diese Kritiken sind alle berechtigt! Man könnte über das Thema bestimmt eine juristische Abhandlung schreiben, eine historische, eine diskurswissenschaftliche und eine politikwissenschaftliche. Du kannst allerdings nur eine Doktorarbeit schreiben und das bestenfalls, bevor der Vertrag oder das Stipendium ausläuft. Deshalb muss man ein dickes Fell haben und darauf gefasst sein, bei jeder Konferenz und jedem Kolloquium mit sehr viel Kritik konfrontiert zu werden. Auch wenn man von dieser Kritik sehr verunsichert wird, darf man nicht jedes Mal am großen Ganzen zweifeln, sondern reflektiert überlegen, welche Hinweise eine wirklich weiterbringen (Tipps dazu findest du hier).

6. Du darfst deine Fragestellung genau so lösen, wie du möchtest

Ok, das ist vielleicht etwas übertrieben! Natürlich wird deine Betreuung ein Wörtchen mitreden, es gibt Zwänge wie Zeit und Geld – aber es gibt eben deutlich weniger Zwänge durch Ansätze und Konventionen einer bestimmten Disziplin. Sätze wie „So können Sie da aber in einer historischen/medienwissenschaftlichen/insert any discipline here Arbeit nicht machen!“ wirst du selten hören. Falls sie doch jemand sagt, kannst du milde lächeln und sagen: „Meine Arbeit ist interdisziplinär und deshalb ist dieser Ansatz für mich durchaus gangbar.“

7. Du wirst wahnsinnig viel lernen

Eine Fragestellung interdisziplinär zu lösen bedeutet, das Thema aus verschiedenen Disziplinen zu beleuchten. Bei interdisziplinären Projekten ist es meist so, dass du vor dem Beginn der Diss nicht Expertin in allen Themen bist. Deshalb wirst du dich zwangsläufig mit neuen Konzepten, Methoden und Theorien auseinandersetzen müssen. Damit geht logischerweise einher, dass du wahnsinnig viel Literatur sichten werden musst. Während das einerseits viel Lesearbeit bedeutet, heißt es andererseits auch, dass du wahnsinnig viel lernen darfst. Kleiner Tipp: Handbücher und „Einführung in …“ werden deine besten Freunde werden. Sie liefern kompakt und knackig einen Überblick über das Thema, verweisen auf die wichtigste Literatur und fassen die Kernaspekte zusammen. Netter Nebeneffekt: du wirst keine Fachidiotin! Statt bei der Diss nur in die Tiefe zu lesen, erweiterst du dein Wissen auch in die Breite. Bei Konferenzen und Kolloquien wirst du schnell merken, dass du plötzlich an jede Menge Themen anknüpfen kannst!

8. Du wirst dich verloren fühlen

Wer sich schon etwas länger in der Wissenschaft bewegt, hat vermutlich schon gemerkt, dass jede Disziplin ihre eigenen Regen hat. Das gilt für den Aufbau von Doktorarbeiten, Definition von Begriffen, Konventionen über Formalia und sogar für die Kleiderordnung bei Konferenzen. Diese Regeln zu kennen, ist unerlässlich und genau deshalb wird es bei interdisziplinären Projekten kompliziert. Besonders dann, wenn man in der eigenen Diss versucht, Disziplinen zusammenzuführen, die vielleicht nicht mal an der gleichen Fakultät sitzen. Soll man dann einen klassischen Aufbau wählen, wie in der Geschichte? Ein kleinteiliges Inhaltsverzeichnis machen, wie die Juristinnen? Und wie dann mit Feldnotizen umgehen, die es ja eher bei den Ethnologen gibt? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten und du wirst einen guten Teil deiner Arbeitszeit aufwenden müssen, ie für dich zu klären.

9. Du wirst die „mono-disziplinären“ manchmal beneiden…

Insbesondere in Phasen der Verunsicherung, wenn du in Literatur ertrinkst, den roten Faden verloren hast und drei Mal widersprüchliches Feedback bekommen hast, wirst du neidisch auf die Büronachbarn schielen, die einfach in einer Disziplin verortet sind. Bei Ihnen schaut alles so leicht aus!

10. …aber niemals würdest du tauschen wollen!

Bei allen Schwierigkeiten, die eine Interdisziplinäre Diss mit sich bringt – sie ist ein super spannendes Abenteuer! Am Ende hast du plötzlich fachliche und methodische Kenntnisse, von denen du vorher nur zu träumen gewagt hättest – du kannst vielleicht Filmanalyse, Interviews führen oder mit Statistikprogrammen umgehen und bist damit eine Exotin in deinem Feld. Das kann nachher bei der Jobsuche ein Riesenvorteil sein! Trotz all der Rüchschläge macht die Interdisziplinarität dein Thema so spannend und bunt. Außerdem: Du machst da vermutlich etwas, was noch niemand vor dir getan hat. Was für ein Privileg – und was für eine Chance!

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