Effizient lesen für die Diss. (oder: Wie lese ich einen Text?)

Als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind wir automatisch Viel-Leser. Wenn ich irgendetwas während meiner Promotion gelernt habe, war das wohl, möglichst viele Texte innerhalb kürzester Zeit sinnerfassend zu lesen. Texte zu lesen, daraus relevante Informationen für uns herauszufiltern, Argumente gedanklich nachzuvollziehen und zu überprüfen – das ist unser täglich Brot.

Ich bin dabei stets mit einer Mischung aus Methode und Intuition vorgegangen – abhängig in erster Linie davon, wie viel Zeit und Muße ich hatte. Die Exzerpte, die ich zu Beginn meiner Promotion erstellt habe, haben zum Beispiel alle oben im Dokument einen hellgrau hinterlegten Kasten, in dem ich die wichtigsten Infos zum Text sowie das Hauptargument zusammengefasst habe und mir eine Notiz gemacht habe, wofür ich den Text wohl verwenden könnte. Sehr praktisch, vor allem, wenn ich drei Jahre später nochmal schnell nachgucken wollte, was eigentlich in einem bestimmten Text stand. Das habe ich allerdings nur so ein halbes Jahr lang durchgehalten… ganz am Ende hatte ich von vielen Texten gar keine Exzerpte mehr, sondern habe nur noch das pdf-Dokument mit virtuellem Gelbstift markiert. Geht auch, ist aber nicht so praktisch.

Meine zugegebenermaßen eher rudimentär angelegte Methode der Textlektüre hatte ich  zu Beginn meines Studiums gelernt. Aus irgendeinem Grund hatte unsere Professorin fünf Fragen an die Tafel geschrieben, die uns beibringen sollten, wie man einen Text liest. Dummerweise habe ich diese Fragen genauso schnell wieder vergessen, wie sie von der Tafel verschwunden waren. Aber was ich mir gemerkt habe: Es ist wichtig, mit Fragen an einen Text zu gehen! Tatsächlich—wie ich bei der Recherche für diesen Post gelernt habe—spielen Fragen auch in den wissenschaftlich entwickelten Lesestrategien eine zentrale Rolle. Solche Lesestragien unterteilen den Leseprozess in einzelne Schritte. Die gängigsten davon nennen sich „SQ3R“ und „PQ4R“ – „Survey – Question – Read – Recite – Review“ (die 3 R’s) und „Preview – Question – Read – Reflect – Recite – Review“ (die 4 R’s). Fragen stehen in beiden Fällen relativ am Anfang!

Im Folgenden habe ich eine Liste von Fragen zusammengestellt, die—in einer Mischung aus Methode und Intuition—meistens meinen Leseprozess geleitet haben. Wie in allen anderen Dingen des Lebens auch ist mir beim Lesen die Effizienz wichtig. Das ist kein Plädoyer für schnelles Lesen, aber für zielgerichtetes Lesen – und ein Lesen, welches mir später durch gute Exzerpte viel Arbeit erspart.

Vor dem Lesen

  •  Wofür brauche ich den Text?

Will ich nur schnell einige Informationen herausarbeiten, die ich beispielsweise für die thematische Hinführung in ein Kapitel brauche? Dann sollte ich sicherstellen, dass der Text, den ich lese, auch dafür geeignet ist – also eines der Standardwerke ist, die alle anderen auch zitieren, die zu meinem Thema arbeiten. Ein guter Hinweis sind Fußnoten: Verweisen sie auf andere Literatur (dann beschaffe ich mir diese) oder auf Studien oder Quellen, die der Autor/die Autorin selbst durchgeführt oder erhoben hat (dann kann ich das Werk zitieren)?

Oder aber handelt es sich um einen Text, den ich in erster Linie wegen seines Arguments lese? Dann ist natürlich eine wesentlich gründlichere Lektüre notwendig. Außerdem sollte ich dann schon die Fakten einigermaßen im Blick haben, denn Autoren zitieren natürlich auch Fakten selektiv, um ihr Argument zu unterstützen.

  • Welches „standing“ hat der Text?

Ein kurzer Blick in die Zitationen bei google scholar verrät mir, wie wichtig der Text ist – ob das ein Werk ist, das ich auf jeden Fall zitieren sollte, oder ob ich es ggf. auch unter den Tisch fallen lassen kann.

  • Wer ist der Autor bzw. die Autorin?

Über Name und Disziplin hinaus hilft ein Blick auf die Website bzw. den Lebenslauf des Autors, um ihn in seinen Netzwerken zu verorten. Wo und bei wem hat er oder sie zum Beispiel promoviert? In wessen Tradition oder „Schuld“ steht er oder sie?

Ich bin ein großer Fan davon, auch die Danksagungen (acknowledgments) zu lesen. Das macht nicht nur Spaß, sondern hilft auch dabei, das Netzwerk des Forschers kennenzulernen. Bei wem bedankt er oder sie sich? Wer hat Teile des Buches gelesen? Falls ich noch auf der Suche nach mehr Literatur bin, notiere ich mir die Namen und recherchiere sie. Auf jeden Fall hilft mir diese Verortung dabei, das Buch auch argumentativ einzuordnen – mit den Menschen, bei denen sich die Autorin bedankt, steht sie im Diskurs.

Einen Überblick gewinnen

Nachdem ich diese Fragen geklärt habe, schaue ich mir zunächst das Inhaltsverzeichnis an und lese dann intensiv die Einleitung und kursorisch den Schluss. (Bei papers wären das Abstract und Conclusion).

Auch hier lasse ich mich wieder von Fragen leiten, die meine Lektüre (und die Struktur meines Exzerpts) gliedern:

  • Was ist die Forschungsfrage?

Notiere ich mir mit „RQ“ für „Research Question“ direkt am Text.

  • Wie beantwortet der Autor sie?

Das ist die Frage nach seiner Methode oder seinen Quellen. Arbeitet der Autor mit neuem Material? Hat er selbst Daten erhoben oder erstmalig bearbeitet (s.o.)? Hat sie Quellen benutzt, die andere Forscher noch nicht verwendet haben? (Lässt sich auch per google Suche herausfinden). Beides weist auf Originalität hin – und beides lässt sich kritisch hinterfragen. Dienen die Daten, die der Autor erhoben hat oder die Quellen, mit denen die Forscherin arbeitet, tatsächlich der Beantwortung der Forschungsfrage?

  • Auf wen stützt er/sie sich dabei?

Hier kommt auch unsere Recherche zu Lebenslauf und Netzwerk zum Tragen.

  • Wem widerspricht er?

Jeder gute Text versucht, einen Forschungsdiskurs auch dadurch weiterzubringen, dass er bestimmten etablierten Narrativen widerspricht. Die Autorin ist vermutlich stolz darauf, das zu tun und macht es entsprechend transparent. (Notiere ich mit „<=> Name XY, Buchtitel“ am Rand).

  • Was ist sein/ihr Hauptargument?

Auch das sollte ein Autor in der Einleitung präzise formulieren. Jedes Kapitel ist Teil dieses Narrativs. Insofern ist es wichtig, stets das Hauptargument des Buches vor Augen zu haben, wenn ich die einzelnen Kapitel lese (falls ich mich entscheide, das zu tun). Auch das hebe ich natürlich visuell im Text hervor.

Stichwortsuche mit Index/Google Books

Diese beiden Schritte und damit verbundenen Fragen decken den „SQ“ bzw. den „PQ“ Teil der SQ3R und PQ4R-Lesestrategien ab. Und im Sinne der Effizienz bin ich der Meinung, dass sie häufig schon genügen, um einen Text zu lesen. Hier kommt es tatsächlich darauf an, wie zentral der Text für mein Thema ist. Ich habe lange nicht jeden Artikel und jedes Buch, das ich in meiner Dissertation zitiert habe, so ausführlich gelesen, wie es diese Lesestrategien verlangen. Wenn ich weiß, dass mich nur bestimmte Teilaspekte eines Buches interessieren, dann nehme ich noch das Schlagwortregister (Index) zur Hand, oder, mein Lieblingstool, google books. Da kann ich ganz einfach nach den Stichworten suchen, die mich interessieren, und entweder online oder, wenn die Seite nicht angezeigt wird und ich das Buch neben mir auf dem Schreibtisch liegen habe, die entsprechende Seite einfach aufschlagen und habe sofort einen Überblick über alle für mich relevanten Teile des Buches.

Vielleicht will ich aber auch tatsächlich einen zentralen Text argumentativ „durchkauen“. Dazu helfen die 3 R’s bzw. die 4 R’s:

Read, [Reflect], Recite, Review

Read: Ich unterteile den Text in einzelne Einheiten und notiere mir am Rand ein Stichwort dazu. Ich unterstreiche die Kernaussagen.

[Reflect: Ich denke über den Text nach und verknüpfe das Gelesene gedanklich mit meinem Vorwissen]

Recite: Ich exzerpiere die Kernaussagen oder fasse sie in meinen eigenen Worten zusammen (warum ich vom Paraphrasieren in Exzerpten nichts halte, weiter unten).

Review: Ich rekapituliere gedanklich den Text nochmal in seinen Sinneinheiten und Kernaussagen.

Sehr schön sind diese beiden Strategien übrigens in einem Text von Thomas Hoebel von der Uni Bielefeld hier zusammengefasst (S. 7)

Ein Exzerpt erstellen

Im Prinzip habe ich mein Exzerpt ja schon, indem ich einfach die relevanten Abschnitte zu meinen Übersichts-Fragen  in einem Word-Dokument (oder in Citavi etc.) notiert habe. Ggf. habe ich dann noch die relevanten Passagen ergänzt, die sich nach einem Blick ins Schlagwortregister bzw. google books ergeben haben.

Zwei Tipps haben mir das Leben gerettet beim Erstellen von Exzerpten – einen habe ich von meinen Tutorinnen im ersten Semester mitbekommen, den anderen habe ich durch trial and error selbst gelernt.

  1. Immer, immer, immer die Seitenzahl mit notieren!

Es gibt nichts nervigeres, als wenn mir zwei Tage vor Abgabe auffällt, dass mir die Seitenzahl zu einem Zitat fehlt und ich extra noch mal in die Bibliothek muss (oder das Buch schon per Fernleihe zurück geschickt habe), um das Zitat nachzuschlagen. Wenn sich ein Zitat über zwei Seiten erstreckt, habe ich mir angewöhnt, den Seitenumbruch in Klammern mit zu notieren, damit ich genau weiß, welcher Teil des Zitats auf welcher Seite stand, falls ich doch nur einen Teilsatz zitieren will.

Als Beispiel aus dem bereits zitierten Text von Thomas Hoebel, Wissenschaftliche Texte lesen.: „Vor Augen habe ich eine Bastelkreativität in dem Sinn, dass sie nach und nach (4) Coping-Strategien entwickeln, um der Fülle zugemuteter Texte zu begegnen, ohne dafür aber aktiv nach empfohlenen Methoden Ausschau zu halten und für sich zu testen, ob sie brauchbar sind.“

  1. Nie paraphrasieren.

Erstens geht dabei zu viel Zeit verloren, zweitens—und das ist der wichtigere Grund—wird es irgendwann sehr unübersichtlich, welche Teile in meinem Exzerpt paraphrasierte Zitate und welche Originalzitate sind. Wenn ich weiß, dass mein ganzes Exzerpt nur aus Originalzitaten besteht, muss ich nicht mehr überlegen, ob ich diesen Satz jetzt noch umformulieren muss oder nicht und laufe daher weniger Gefahr, unwillentlich zu plagiieren.

Paraphrasieren ist meines Erachtens nur dann sinnvoll, wenn ich einen Text wirklich „durchkauen“ will – das tue ich dann aber handschriftlich auf einem Zettel.

Und voilà! Hast du auf einen Blick alle Infos, die du brauchst – und die dir evtl. Jahre später das Leben wesentlich erleichtern. Und vielleicht hast du ja sogar die Forschungsfrage, Methode, Argument und Hauptaussage in einer kleinen grauen Box ganz oben im Dokument zusammengefasst… dein späteres Ich wird es dir danken! Aber erstmal: Viel Spaß beim Lesen!

Welche Tipps und Lesestrategien habt ihr euch angeeignet?

3 thoughts on “Effizient lesen für die Diss. (oder: Wie lese ich einen Text?)”

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