Die (meritokratische) Illusion – Strukturelle Hürden für Promovierende der Ersten Generation und wie man sie überwinden kann

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In diesem Blog geben wir uns große Mühe, viele Stimmen zu Wort kommen zu lassen und ganz unterschiedliche Erfahrungen rund ums Thema promovieren zu beleuchten. Deshalb sind wir stolz wie bolle, heute einen Gastbeitrag auf dem Blog veröffentlichen zu dürfen, der sich mit einem totgeschwiegenen Thema beschäftigt: akademischer Habitus, das Tabu der sozialen Herkunft und die Hürden die Promovenden meistern, die nicht aus Akademikerhaushalten kommen. Wir freuend uns, dass Ann-Kristin Kolwes vom Verein Erste Generation Promotion e.V. und einen Einblick in das Thema in die großartige Arbeit des Vereins gibt.

Die Hürden, denen Promovierenden jeden Tag bei ihrer Arbeit begegnen, liegen zwischen administrativem Kleinkram und existenziellen Forschungsfragen. Sie können hochgradig spezifisch sein oder aber ganz banal. Ganz besondere Schwierigkeiten kann es bereiten, wenn man die erste Person in der Familie ist, die promoviert, studiert oder überhaupt das Abitur gemacht hat.

Promovierende der ersten Generation

Sogenannte Promovierende der ersten Generation oder Promovierende mit einem nichtakademischen Familienhintergrund machen in Deutschland nur einen kleinen Teil des Gesamtgruppe aus. Der mittlerweile recht bekannte Bildungstrichter aus dem Hochschulbildungsreport 2020 etwa zeigt, dass von 100 Grundschulkindern mit einem nichtakademischen Familienhintergrund durchschnittlich nur eines erfolgreich eine Promotion abschließt. Von 100 Akademikerkindern sind es hingegen 10. Und noch ein anderes Zahlenbeispiel zeigt, wie sehr Bildungserfolg in Deutschland noch immer vererbt wird. Jeder sechste Promovierende hat einen Elternteil, der selbst promoviert ist und dass, obwohl der Gesamtanteil promovierter Personen an der deutschen Bevölkerung bei nur 1,4 Prozent liegt. Hier zeigt sich erneut, wie groß der Einfluss der eigenen sozialen Herkunft auf die Chancen im deutschen Bildungssystem ist und dass dieser Effekt mit einem erfolgreichen Hochschulabschluss nicht verschwindet. Vielmehr lässt sich die Wirkung der sozialen Herkunft bis in die Zusammensetzung der Professorinnenschaft nachweisen.

Beratung durch EGP e.V.

Das Team von EGP e. V., Autorin Ann-Kristin Kolwes im weißen Pullover

Als Verein Erste Generation Promotion – EGP e. V. (im Folgenden: EGP e. V.) unterstützen wir Promovierende und Promotionsinteressierten mit einem nichtakademischen Familienhintergrund. Bereits seit fünf Jahren setzten wir uns für Erstakademikerinnen ein, um Hürden auf dem Weg in die und während der Promotion abzubauen. Die Idee, ein Unterstützungsangebot ins Leben zu rufen, entstand aus den Erfahrungen, die die drei Gründerinnen unseres Vereins während ihrer Promotion machten. Sie stellten selbst immer wieder fest, dass sie bestimmte Abläufe nicht kannten, sich in der wissenschaftlichen Welt unsicher fühlten und ihnen Ansprechpersonen fehlten, mit denen sie über diese Probleme sprechen konnten. Natürlich können die Erfahrungen jeder/jedes Einzelnen sehr unterschiedlich sein und dennoch tauchen einige Themen in den Beratungsanfragen, die unseren Verein erreichen, immer wieder auf, wie etwa fehlendes (informelles) Wissen. Viele der Informationen rund um eine Promotion sind schwer zugänglich bzw. zirkulieren in bestimmten Netzwerken, zu denen man einen Zugang benötigt. Die Informationsseiten von Hochschulen oder externen Anbietern bleiben zumeist recht vage, was zumeist einfach an der Komplexität der Thematik liegt. Und die Promotionsordnung als offizielles Dokument, das den Promotionsprozess rechtlich regelt, klärt bei weitem nicht alle auftauchenden Fragen. Doch wie soll man eine vernünftige Entscheidung für oder gegen eine Promotion treffen, wenn man nur über ein ungefähres Wissen verfügt? Um hier gegenzusteuern bietet EGP e. V. kostenlose Beratungen für Promovierende und Promotionsinteressierte an. Können diese nicht in Köln stattfinden, beraten wir auch telefonisch. Darüber hinaus organisieren wir regelmäßige Workshops und Informationsveranstaltungen zu Themen wie wissenschaftlichem Schreiben oder dazu wie man seine Promotionszeit bei der Steuererklärung geltend machen kann. Die Weitergabe praktischen Wissens steht hierbei im Vordergrund unserer Arbeit.

Der akademische Habitus

Doch meist sind es nicht nur die administrativen Fragen, die die Ratsuchenden umtreiben. Viele zweifeln auch, ob das wissenschaftliche System tatsächlich das Richtige für sie ist und inwiefern sie den Anforderungen überhaupt gewachsen sind. Dieses Fremdheitsgefühl gegenüber der akademischen Welt ist weit verbreitet und lässt nicht selten an den eigenen Fähigkeiten zweifeln. Gehöre ich hier eigentlich hin? Kann ich überhaupt mithalten? Das sind Fragen, die viele umtreiben. Der akademische Habitus, wie ihn Pierre Bourdieu bereits 1979 in seinem Buch Die feinen Unterschiede beschrieb, besitzt auch noch 40 Jahre später an deutschen Universitäten eine große Wirkmächtigkeit. Das Erleben der Uniwelt kann zugleich genau andersherum wirken und einem endlich das Gefühl des Angekommenseins geben, wodurch jedoch ein Gefühl der Entfremdung zur Familie und dem bisherigen Umfeld entstehen kann. Dieses kann sich etwa aus der Veränderung der Sprache, dem Entdecken neuen Wissens und dem Wandel der eigenen Lebenswelt ergeben. Das Wandeln zwischen zwei Welten bzw. zwischen zwei Milieus ist eine ständige Gradwanderung, die häufig viel Kraft kostet, die man aber auch als persönliche Ressource verstehen kann. Dass man mit diesen Problemen nicht allein ist und es ein Prozess ist, den viele kennen, hilft dabei besonders. Den Raum für einen solchen Austausch zu ermöglichen, indem man diese Dinge einmal offen thematisieren kann, ist daher ein weiteres wesentliches Ziel unseres Vereins. Zum Vernetzen und gegenseitigen Empowern bietet EGP e. V. regelmäßige Stammtische an, zu denen alle Interessierten herzlich eingeladen sind. Hier gibt es die Möglichkeit sich ganz ungezwungen mit anderen auszutauschen. Zu erkennen, dass man nicht die einzige Person ist, die solche Hürden erlebt, hilft unserer Erfahrung nach dabei schon ungemein.

Beratung zur Finanzierung

Ein weiteres großes Thema – vor allem in den Geisteswissenschaften – sind finanzielle Ressourcen, über die Erstakademikerinnen in der Regel selbst nur begrenzt verfügen. Diese können durch ihr soziales Umfeld oftmals nicht, auch nicht temporär, zur Verfügung gestellt werden. Promotionsstipendien sowie die Vergütung auf Qualifikationsstellen sind meist deutlich geringer als Einstiegsgehälter für Masterabsolventinnen. Darüber hinaus dauert es nicht selten mehrere Monate, oder noch länger, bis man die Zusage für eine solche Finanzierung erhält. Die Finanzierung von Forschungsaufenthalten, etwa im Ausland, ist häufig ein weiteres Problem. Zwar gibt es einige Möglichkeiten diese von anderen Stellen erstatten zu lassen, aber die Aufenthalte muss vorfinanziert werden, was sich bei längeren Auslandsreisen schnell auf vierstellige Beträge belaufen kann. Leider wird vor allem dieser ökonomische Aspekt noch viel zu wenig bei der Vergabe von Stipendien berücksichtigt. Zwar kann EGP e. V. selbst keine finanziellen Unterstützungen anbieten, aber wir informieren über vorhandene Möglichkeiten, genauso wie wir im hochschulpolitischen Diskurs immer wieder auf diese Problematik aufmerksam machen und versuchen, die Akteurinnen und sogenannten Gatekeeper dafür zu sensibilisieren.

Mentoring für Promoviernde der Ersten Generation

Einer der bisher größten Erfolge des Vereins ist die Institutionalisierung des Programms Erste Generation Promotion Mentoring+ an der Universität zu Köln. Seit 2017 gibt es das bisher deutschlandweit einzigartige Mentoring-Programm für Promovierende und Studierende mit einem nichtakademischen Familienhintergrund, das zuvor ehrenamtlich vom Verein organisiert wurde. Die 15 Teilnehmenden werden ein Jahr lang von einem/einer bereits promovierten Mentorin begleitet, der/die ebenfalls einen nichtakademischen Familienhintergrund hat. Dies ermöglicht es, sich auf Augenhöhe und Grundlage der geteilten Erfahrungen auszutauschen. Zu dem Programm gehören außerdem Workshops, die speziell auf die Zielgruppe zugeschnitten sind. Aktuell befindet sich das Programm im dritten Durchgang – Interessierte können sich wieder ab Juni 2020 für eine Teilnahme bewerben!

Die meritokratische Illusion

Mit unserem Engagement versuchen wir nicht nur Einzelnen beim Abbau ihrer persönlichen Hürden zu helfen, sondern uns auch langfristig für mehr Bildungsgerechtigkeit und Diversität im deutschen Hochschulsystem einzusetzen. Denn die soziale Geschlossenheit führt letztlich nur dazu, dass sich sehr gute Wissenschaftlerinnen selbst aus dem System aussortieren, weil sie die eigenen Hürden und die, die ihnen das System in den Weg stellt, als unüberwindbar empfinden. An dieser Stelle wird immer wieder gerne behauptet, dass exzellente Leistungen aber letztlich auch zu einer erfolgreichen wissenschaftlichen Karriere führen würden – das ist jedoch leider eine (meritokratische) Illusion. Vielmehr brauchen wir in Deutschland langfristig eine Veränderung der Wissenschaftskultur, in der die soziale Herkunft und der wissenschaftliche Habitus keine entscheidende Rolle mehr spielen dürfen. Erste Generation Promotion – EGP e. V. versucht genau dort anzusetzen. Dabei ist nicht das Ziel, dass nun alle unbedingt promovieren müssen. Unser Anliegen ist vielmehr, Ratsuchende dabei zu unterstützen, ihre eigene, informierte und selbstgewählte Entscheidung zu treffen – und dies ohne bestimmt zu sein von der Angst vor den hier angesprochenen möglichen Schwierigkeiten.

Zum Weiterlesen:

https://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/frau-tv/video-der-harte-weg-zur-akademikerin-100.html

https://www.opend.org/read/die-erweiterung-des-flaschenhalses

https://www.jmwiarda.de/2019/12/23/die-soziale-herkunft-ist-ein-tabuthema/

2 thoughts on “Die (meritokratische) Illusion – Strukturelle Hürden für Promovierende der Ersten Generation und wie man sie überwinden kann”

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