
Wer kennt es nicht: den ganzen Tag vor dem Laptop gehangen, fleißig gelesen, getippt und an Texten gefeilt, der Feierabend sollte eigentlich schon lang begonnen haben, aber du sitzt unzufrieden und frustriert am Schreibtisch. Hättest du nicht heute viel mehr schaffen sollen? Wieso fiel es dir so schwer, dieses Paper zu verstehen? Müsstest du nicht eigentlich diese eigene Theorie recherchieren, die darin erwähnt wurde? Und vom Kapitel, das du heute geschrieben hast ganz zu schweigen; deine Betreuung wird es bestimmt komplett verreißen.
Kommt dir bekannt vor? Das Problem könnte Perfektionismus heißen: der Drang, niemals Fehler machen zu wollen, bloß nichts zu vergessen, keine Frage unbeantwortet zu lassen. Die meisten Promovierenden kenne diese Gefühle zumindest ein bisschen: Um sich jahrelang an einem Thema festzubeißen und dieses im Detail zu recherchieren und zu verstehen, braucht es eine Prise Perfektionismus. Zuviel davon kann jedoch schaden und Perfektionismus in vielen Fällen der Grund, warum Dissertationen sich ewig hinziehen oder letztendlich gar nicht fertig werden. Es klingt paradox, aber der Drang, alles zu 1000% richtig zu machen führt dann dazu, dass die Doktorarbeit nie eingereicht wird.
Perfektionismus vs. Pragmatismus
Trotzdem wird Perfektionismus in Doktorandenkreisen noch immer glorifiziert. Wenn man die Diss nicht perfekt macht, fällt man dann nicht durch? War dann nicht alle Arbeit umsonst? Ich behaupte: Nein! Das Gegenteil von “Perfektionismus“ ist keinesfalls „Unperfektheit“ sondern „Pragmatismus“!
Wenn man darüber nachdenkt ist Perfektionismus eigentlich das denkbar schlechteste Arbeitsmodell für eine Dissertation: Perfektionismus verdammt zur Selbstüberforderung, gibt einem das ständige Gefühl des Versagens, weil man seinen Ansprüchen nie gerecht wird und macht schlussendlich unglücklich. Man verzettelt sich, vergeudet Zeit und Energie und wird häufig vom Perfektionismus so blockiert, dass man am Ende gar nichts hinbekommt.
Pragmatismus ist hingegen eine Tugend, die vom ständigen Druck befreit. Wenn man pragmatisch an der Diss arbeitet, versucht man, aus dem vorhandenen Material und den gegenwärtigen Bedingungen das Beste rauszuholen. Ein pragmatisches Anpacken von Zielen und Aufgaben erhöht die Wahrscheinlichkeit, die auch tatsächlich zu erreichen. Deshalb ist Pragmatismus ein Erfolgsfaktor für die Promotion und kann die Zufriedenheit mit dem Arbeitsalltag deutlich erhöhen: wenn man pragmatisch gearbeitet hat, kann man den Tag meist mit gutem Gewissen abschließen.
Wie wird Perfektionismus los?
Selbst, wenn man verstanden hat, dass der eigene Perfektionismus die Doktorarbeit nicht voranbringt, ist es schwer, ihn abzulegen. Manchmal helfen auch äußere Umstände, dass man den Pragmatismus-Turbo zündet: eine Deadline, eine auslaufende Finanzierung, ein Jobangebot, eine lang ersehnte Urlaubreise… Ein solcher Umstand kann dafür sorgen, dass man den Perfektionismus endlich los wird! Ansonsten können auch diese fünf Gedanken helfen:
Jeder Mensch ist unperfekt
Viele Promovierende hadern mit sich selbst und ihrer eigenen Leistung. Sind meine Texte nicht zu holprig, meine Erkenntnisse zu banal? Merkt man in dem Kapitel nicht, dass ich eigentlich keine Ahnung habe? Hätte ich nicht viel mehr lesen müssen, viel mehr Daten sammeln? Bis zu einem gewissen Punkt sind solche Zweifel normal und ja auch gesund. Man sollte natürlich im Forschungsprozess kritisch bleiben. Aber zu verlangen, dass man alles kann, alles weiß, alles gelesen und alles verstanden hat – diese Ansprüche sind unrealistisch. Fehler zu machen ist vollkommen normal und niemand erwartet, dass die Doktorarbeit den Nobelpreis verdient.
Jedes Wissen ist endlich
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in einer Doktorarbeit gewonnen werden können, sind begrenzt. Jede Untersuchung ist immer nur eine Antwort auf eine Forschungsfrage, die durch den Einsatz einer bestimmten Methodik oder auf Grundlage bestimmter Quellen formuliert wurde. Demnach ist eine Doktorarbeit nie der Weisheit letzter Schluss – die Wissenschaft ist immer größer als du. Du wirst es nie schaffen, alle Regalmeter mit Publikationen zu lesen, die potenziell noch mit deiner Diss zu tun haben. Wenn man das akzeptiert hat, kann man nachts deutlich ruhiger schlafen.
Aufwand und Ertrag müssen im richtigen Verhältnis stehen
Ja, vermutlich hätte ich mehr Daten erheben können, wenn ich eine zweite Feldphase gemacht hätte. Wenn ich aber überlege, wie viel Geld, Zeit und Aufwand mich das gekostet hätte, habe ich es schlichtweg als nicht angebracht empfunden, noch einmal ins Flugzeug zu steigen. Um die Diss irgendwann fertig zu kriegen, muss man sich pragmatisch an vielen Punkten die Kosten-Nutzen-Frage stellen.
Besonders schwierig wird dieses Thema bei Exkursen und weiterführenden Aspekten. Schnell bekommt man als Promovend das Gefühl, das müsse man auch noch alles wissen. Der Löwenanteil deiner Zeit sollte sich deinem Kernthema widmen und dich nicht in der Recherche unnötiger Details verlieren, die deine Arbeit nicht voranbringen oder sogar überfrachten. Im zentralamerikanischen Spanisch sagt man in so einem Fall: „Da ist ja die Brühe teurer als die Bohnen!“ Soll heißen: wenn du länger an einer einzeiligen Fußnote sitzt, als du an der ganzen Seite gearbeitet hast, machst du etwas falsch!
Nice to have ist unnötig
Wenn die Zeit oder das Geld knapp werden und man den Promotionsturbo einlegen muss, hilft eine Priorisierung um aus der Perfektionismusfalle zu entkommen. Dabei sollte man gewichten, welche Wichtigkeit Aufgaben, Literatur oder inhaltlichen Aspekte für die tatsächliche Diss haben. Wie viele Kategorien man dabei macht, ist ganz individuell. Klassischerweise empfehlen sich drei: unverzichtbar, wichtig und nice to have. Dann sollte man die Aspekte nach ihrer Priorisierung angehen, und zwar beginnend mit den unverzichtbaren Aufgaben. Spoiler Alert: man schafft in den seltensten Fällen alles, was man sich vorgenommen hat. An Ende werden einige Artikel aus der Kategorie „nice to have“ nicht gelesen werden, einige Aspekte nicht in der Diss angesprochen und einige technische Spielerein nicht umgesetzt. Das ist ok – denn diese Dinge sind für eine gelungene Doktorarbeit nicht unbedingt nötig!
Man kann nur bestehen, wenn man einreicht
Der vielleicht wichtigste Gedanke, um sich aus der Perfektionismus-Falle zu befreien! Wenn man davon ausgeht, dass keine Arbeit je ganz perfekt wird, darf man nicht den Zeitpunkt verpassen, endlich einzureichen. Als Perfektionist oder Perfektionistin läuft man Gefahr, ewig an völlig unwichtigen Details rumzubasteln, bis Zeit, Geld und Motivation aufgebraucht sind. Niemanden nutzt eine halb fertige Diss, die zwar bis dahin perfekt ist – aber niemals fertig wurde. Irgendwann muss man sich ein Herz fassen, einen Haken an das Projekt machen und sagen „Nur eine eingereichte Diss ist eine gute Diss!“
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2 thoughts on “Gut genug ist gut genug! Perfektionismus und Pragmatismus in der Doktorarbeit”