Promovieren mit dem Hochstapler-Syndrom (Das Impostor Syndrome)

Vor einigen Jahren las ich Sheryl Sandbergs Buch Lean In. Sandberg ist Geschäftsführerin bei Facebook und blickt auf eine lange und erfolgreiche Karriere zurück – Uni in Havard (sowohl für den Bachelor als auch Harvard Business School), dann Stationen bei McKinsey, im US-Finanzministerium und bei Google, bevor Mark Zuckerberg sie zu Facebook rekrutierte. In ihrem Buch geht es eigentlich um Strategien, die Lücke in Gehältern und Positionen zwischen Frauen und Männern im Arbeitsmarkt zu schließen.

Der Druck, ein Einhorn sein zu müssen! Grafik von Jason Alderman, https://www.flickr.com/photos/jalderman/13654135835

Mich hat das Buch aus einem anderen Grund fasziniert. Im Kapitel „Sit at the Table“ beschreibt Sandberg, wie sie sich zunächst in der Schule, dann an der Uni und später im Geschäftsleben häufig als „Hochstaplerin“ (impostor) fühlte. Während andere ihre akademischen und geschäftlichen Erfolge als wohl verdient und Resultat ihrer harten Arbeit, Erfahrung und Qualifikation verbuchten, wartete Sandberg nur darauf, als Hochstaplerin entlarvt zu werden, deren jeder Erfolg reines Glück war, und die mit jeder Äußerung im Seminar einen Schritt näher an ihrer Enttarnung war, wenn alle Welt erkennen würde, dass sie eigentlich gar nicht nach Harvard gehörte. Sandberg beschreibt eine Episode an der Uni, als sie, ihre Mitbewohnerin und ihr Bruder – die alle denselben Kurs belegten – sich nach einer Klausur unterhielten. Sandberg und ihre Mitbewohnerin waren regelmäßig ins Seminar gegangen und hatten sämtliche relevante Literatur gelesen. Sie hatten außerdem tagelang für die Prüfung gelernt. Ihr Bruder war ab und zu hingegangen und hatte sich von Sandberg und ihrer Freundin für die Klausur coachen lassen. Nach der Prüfung zerbrachen sich Sandberg und ihre Mitbewohnerin den Kopf darüber, was sie alles nicht erwähnt hatten, welche Gedanken sie nur lückenhaft umrissen und welche Argumente sie nicht logisch genug miteinander verknüpft hatten. Ihr Bruder erklärte einfach, er würde eine glatte 1 auf die Klausur bekommen. Am Ende bekamen alle die 1 – aber Sandberg fragte sich, warum ihr Bruder so viel zuversichtlicher aus der Klausur herausgegangen war, wenn sie doch mindestens genauso viel Grund gehabt hätte, optimistisch zu sein wie ihr Bruder.

Auf Englisch ist diese Denkweise unter dem Titel „impostor syndrome“, „impostor phenomenon“ oder „impostor experience“ bekannt (die letzteren Bezeichnungen sind weniger gängig, aber akkurater, weil das Phänomen keine psychische Störung ist). Das Hochstaplersyndrom bezeichnet eine Art und Weise zu Denken, in der Menschen sich als „Hochstapler“ empfinden und ihre Erfolge als unverdient, allein dem Glück oder den Umständen geschuldet abtun. Wer unter dem Hochstaplerphänomen leidet, wartet darauf, dass das Umfeld in jedem Moment herausfindet, dass er oder sie ihre Stellung oder ihren Erfolg nicht verdient, dass er fehl am Platze ist, nicht intelligent genug und nicht kompetent genug, seine Tätigkeit auszuüben. Das Konzept wurde erstmals von zwei Psychologinnen (Pauline Clance und Suzanne Imes) in einer Studie von erfolgreichen Frauen beobachtet, ist aber – wie inzwischen bekannt ist – unter Männern ebenso verbreitet wie unter Frauen.[1]

Diese Denkweise kam mir sehr bekannt vor. Ich fühlte mich zurückversetzt an den Beginn meines Studiums. Ich traute mich im Seminar schlichtweg nicht, den Mund aufzumachen – denn jede spontane Äußerung, die ich nicht darauf überprüfen konnte, was sie an Lücken in Allgemeinbildung oder Hintergrundwissen offenbarte, brachte mich gefährlich nahe daran, als ungebildet, oberflächlich und fehl am Platz „enttarnt“ zu werden. In Hausarbeiten mündete diese Angst in einen übertriebenen Perfektionismus: Jeder Satz musste gedreht und gewendet werden, ob er irgendeine Aussage enthielt, die nicht hundert prozentig wissenschaftlich zu verteidigen war. Jede Hausarbeitsbesprechung, jeder Sprechstundentermin war mit Angst behaftet und ging garantiert einher mit einem rasenden Herzklopfen.

Wikipedia beschreibt die Symptome des Phänomens folgendermaßen:

  • Perfektionismus
  • Überarbeitung
  • Eigene Leistungen gering schätzen
  • Versagensängste
  • Lob gering schätzen oder abtun

In diesen Symptomen, die Sandberg beschrieb, erkannte ich mich wieder. Ihre Beschreibung des Hochstapler-Syndroms fasste in Worte, was ich damals – und oft heute noch immer – empfand. Aber es illustriert auch die Absurdität dieses Denkens: Wenn eine der erfolgreichsten Frauen des Silicon Valley sich nicht davon freimachen kann, sie wie eine Hochstaplerin zu fühlen, dann war ich vielleicht auch weniger Hochstaplerin als ich in manchen Momenten annahm. In der Tat ist das die Crux: Wer am Hochstaplerphäneomen leidet, der fühlt sich wie ein Hochstapler – ohne jeglichen Bezug zur Realität und völlig unabhängig von den eigenen Leistungen. Sich inkompetent zu fühlen und inkompetent zu sein sind zwei völlig verschiedene Dinge!

Als Wissenschaftlerin bewege ich mich in einem Umfeld, das mir besonders geeignet scheint, Menschen mit Hochstaplersyndrom zu produzieren. Über unserer Arbeit hängt das ständige Damoklesschwert der externen Begutachtung entweder durch Betreuer oder durch peer reviewer. Alles, was wir produzieren, liefern wir im wissenschaftlichen Prozess der Kritik unserer Kolleginnen und Kollegen aus. Die Angewohnheit, jeden Satz, den ich schreibe, dreimal auf mögliche Kritikpunkte zu überprüfen, habe ich auch als Promovendin beibehalten. Versagensängste scheinen mir ebenso vorprogrammiert angesichts des peer review Prinzips – zumindest für die von uns, die nicht ohnehin davon überzeugt sind, ein Genie zu sein, deren Eingebungen die Welt ungeduldig erwartet.

Diese Versagensängste werden verstärkt durch eine akademische Kultur, in der wir Vorträge und Paper geradezu rigoros auf Fehler und Inkonsistenzen untersuchen und uns selbst darüber profilieren, sie aufzudecken. Auch Nachwuchswissenschaftler/innen wird hier oft mit wenig Wohlwollen begegnet – nicht selten leider auch untereinander. Das kenne ich selbst auch: Wenn ich um Feedback gebeten werde für ein Vortragsmanuskript oder ein paper, fühle ich mich geradezu dumm, ein „Daumen hoch – weiter so“ darunter zu setzen. Auch ein Kommentar nach einem Konferenzvortrag, der einfach nur „sehr interessant, faszinierende Ergebnisse, super Einordnung in den wissenschaftlichen Diskurs“ besagt – ich habe so etwas noch nie gehört. Kritik wird gleichgesetzt mit Intelligenz und dabei vergessen, dass so berechtigt und notwendig manche Kritik sein mag, Tonfall und Formulierung dafür sorgen können, Jungakademiker entweder zu ermutigen oder zu entmutigen. Und so kultivieren wir ein akademisches Miteinander, das sicherlich einerseits gute Resultate produziert, aber auf dem Weg dorthin auch so einige gebrochene Seelen hinterlässt.

Trotzdem – oder gerade deswegen – hat das Hochstaplersyndrom auch das Potential, besonders gute Wissenschaftler/-innen hervorzubringen. Auch wenn übertriebener Perfektionismus nicht immer hilfreich ist in einer „publish or perish“ Welt – mir ist es persönlich mehr wert, gute Arbeit zu produzieren, indem ich mich selbst ständig hinterfrage, als einen quantitativ höheren Output vorzuweisen, der möglicherweise dem wissenschaftlichen Diskurs nicht standhält. Meine Versagensangst hält mich dazu an, mich besser vorzubereiten auf Diskussionen und Vorträge. Davon, so meine ich, sollte doch auch das Niveau der Diskussion profitieren.

Mir hilft das Wissen um die Existenz des Hochstaplerphänomens immens im Umgang damit. Ich kann es, wie oben beschrieben, bewusst für mich nutzbar machen – aber gleichzeitig auch bewusst einen Gegenpol setzen zu einer Denkweise, die mich dazu bringt, mich zu überarbeiten und Lob für eigene Leistungen als unberechtigt abzutun. Wenn, wie Wikipedia unter Berufung auf einen Artikel des Psychologen Jaruwan Sakulku behauptet, siebzig Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens sich als Hochstapler fühlen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen auch alle Hochstapler sind, eher gering.[2]Folglich bin ich selbst vermutlich tatsächlich auch eher keine Hochstaplerin.

Und ich kann meinen Teil dafür tun, eine akademische Kultur zu prägen, in der Wissenschaftler zugeben können, nicht alles zu wissen und in der Kritik konstruktiv geübt wird und sich nicht nur auf Negativaussagen beschränkt. Ich kann in Arbeitsgruppen Fragen stellen, die offenbaren, dass ich möglicherweise nicht jeden relevanten Artikel gelesen habe oder von einem Ereignis oder Zusammenhang noch nie gehört habe (auf einer Konferenz würde ich das vermutlich nur mit Professorentitel wagen… aber es ist ein Anfang!).

Übrigens hilft es ungemein, einen Blog zu schreiben – wer in regelmäßigen Abständen Inhalte liefern muss, kann sich auf lange Sicht keinen übertriebenen Perfektionismus leisten (zum Beispiel, indem man in einem Post gleich zwei Mal Wikipedia zitiert… ) Und für wen das nichts ist: Ein Blick auf den CV of failures des Princetoner Psychologieprofessors Johannes Haushofers ist augenöffnend…

[1]Clance, P. R., & Imes, S. A. (1978). The imposter phenomenon in high achieving women: Dynamics and therapeutic intervention. Psychotherapy: Theory, Research & Practice, 15(3), 241-247.

[2]Sakulku, Jaruwan (2011). ““The Impostor Phenomenon,” International Journal of Behavioral Science. 6 (1): 73–92.

 

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