Wie schreibe ich schnell einen guten Forschungsüberblick?

Standing on the Shoulders of Giants – das Motto von Google Scholar fasst den Sinn eines Forschungsüberblicks gut zusammen. In der Tat fange ich ja mit meiner Dissertation nicht bei Null an. Vielmehr reihe ich mich ein in einen Forschungsdiskurs, der manchmal schon seit Jahrzehnten geführt wird. Im Forschungsüberblick ordne ich daher meine Fragestellung in das große Ganze ein: Wer war vor mir? Auf welchen „Schultern“ stehe ich? Auf welche Debatten nehme ich Bezug? Was ist an Vorarbeiten schon geleistet worden? Welche Studienergebnisse berücksichtige ich? Und, am wichtigsten: Welche eklatant klaffende Lücke lässt die bestehende Forschung, die ich Doktorandin—Applaus, Applaus—endlich fülle?

In diesem Blogpost soll es nicht darum gehen, wie du überhaupt Literatur zu deinem Thema recherchierst. Du weißt vermutlich, wie das geht, sonst würdest du ja nicht promovieren. Aber was, wenn die Doktormutter noch eine Fußnote in der Einleitung zu deinem 5. Kapitel will, in dem du kurz den Forschungsstand zu dem Randthema, was du dort anreißt, zusammenfasst? Du hast einen halben Tag Zeit und hast eigentlich keine Ahnung, welche die relevanten Titel sind. Wo fängst du an?

Wikipedia

Tatsache. Wikipedia ist bekanntermaßen keine erschöpfende oder immer akkurate Informationsquelle, aber bei fast jedem Eintrag findest du ganz unten die Rubrik „weiterführende Literatur“. Dort sind häufig schon einige der wichtigsten (in der Regel nie alle, das wäre zu einfach, aber immerhin) Monographien zu einem Thema aufgelistet. Klar musst du noch etwas filtern: Was klingt seriös/ist bei einem wissenschaftlichen Verlag veröffentlicht? Welche Autoren sind tatsächlich Wissenschaftler, welche vielleicht Akteure oder Zeitzeugen? Aber das lässt sich ja mit ein bisschen Common Sense und einer schnellen Google-Recherche beantworten. Meistens findest du hier schon einmal zwei, drei Titel, mit denen du weitermachen kannst. Vielleicht hast du Glück und es wird sogar ein Handbuch genannt, in dem alle wichtigen Namen Einführungsartikel mit Literaturverweisen veröffentlicht haben!

Reviews!!!

Ich bin ganz ehrlich der Meinung, dass der Erfinder von Reviews einen Nobelpreis verdient. Reviews machen das Wissenschaftler-Leben SO viel einfacher. Mit den Titeln, die du bei Wikipedia entdeckt hast, begibst du dich jetzt auf jstor.com, projectmuse.com oder einfach Google Scholar* und googelst Review (oder, wenn du deutschsprachige Literatur suchst, Rezension) + Name des Autors + Name des Titels. In den Geistewissenschaften findest du zum Beispiel auf H-Soz-Kult oft Rezensionen, im englischsprachigen Bereich auf h-net.  Auch journals veröffentlichen immer auch Reviews.

Reviews sind aus drei Gründen so fantastisch: 1. Sie fassen die Hauptthese des Buches zusammen, sodass du dir nicht die Mühe machen musst, das ganze Buch (oder die ganze Einleitung) zu lesen. 2. Noch wichtiger: Sie ordnen das Buch in den Forschungskontext/die Debatte ein. In einer guten Rezension werden immer noch andere Titel aus dem Feld genannt, die du dir dann notieren kannst für deine Literaturliste. Und 3. Die Autoren der Reviews veröffentlichen oft selbst im selben Feld, zu dem sie rezensieren – du hast also noch einen Namen mehr, den du googeln kannst.

Für die englischsprachige Forschung habe ich mir auch angewöhnt, ganz generell nach Syllabi (Semesterplänen) zu suchen, die für Uni-Einführungskurse zu den Themen konzipiert sind. Da ist auch die wichtigste Literatur zu dem Thema gelistet. Google einfach zum Beispiel „Syllabus + American immigration history,“ lade dir die Syllabi als pdf herunter und du findest schnell die relevanten Titel zur amerikanischen Immigrationsgeschichte.

Das Schneeball-System

Und jetzt snowballst du: Mit den anderen Titeln, die du in den Reviews gefunden hast, wiederholst du Schritt 2 und suchst Rezensionen zu den entsprechenden Büchern. Du schreibst dir auf, was die Hauptthese ist, guckst, was da sonst noch so genannt wird an relevanter Literatur und googelst den Autoren der Rezension. Und so weiter und so fort. Irgendwann merkst du, dass immer wieder die gleichen Titel auftauchen. Dann weißt du, dass du die wichtigsten Titel alle beisammen hast!

Citations bei Google Scholar

Eine  super Methode, um festzustellen, wie wichtig ein Buch/Artikel ist, ist das Zitationstool auf Google Scholar. Wenn ein Buch 300+ Zitationen hat, weißt du, dass du es vermutlich erwähnen solltest. Wenn es nur 8 hat, guck dir die Titel genauer an (einfach auf „cited by …“ klicken) und entscheide dann, ob das Buch spezifisch genug und relevant genug für dein Thema ist, dass du es trotzdem zitieren solltest.

In diesem Schritt lege ich mir häufig ein Word- oder Exceldokument an, in dem ich die wichtigsten Infos zusammenfasse: Name des Autors, wann das Buch veröffentlicht wurde, Titel, wichtigstes Argument und andere Titel, die in der Rezension erwähnt wurden.

Debatten identifizieren

Gegebenenfalls kann ich dieses Dokument jetzt noch um eine Kategorie ergänzen: Die „Schulen“ oder die Seite der Debatte, auf denen die Autoren stehen. Häufig läuft eine Debatte zu einem viel diskutierten Thema so ab, dass Forscher A eine These aufstellt und dann einige Jahre später Forscher B und Forscherin C in seinen Fußstapfen diese These erweitern (häufig waren dass dann tatsächlich Studenten/Promovenden von Forscher A). Die These gilt als gemeinhin akzeptiert („orthodox“), bis Forscherin D kommt und das Gegenteil behauptet, gefolgt von Forscherinnen E und F, die weitere Gründe liefern, um der orthodoxen These zu widersprechen. Das sind dann die „revisionists.“

Ein ganz gutes Beispiel hierfür ist die historische Forschung zum Vietnamkrieg der USA, die sich im Wesentlichen aufteilt in die Forscher, die den Krieg für grundsätzlich falsch hielten (die „orthodoxe Schule“) und solche, die den Krieg für grundsätzlich richtig, aber militärisch falsch ausgeführt hielten, und schließlich solche, die den US-Zentrismus in der Forschung bemängelten und verstärkt auch auf vietnamesische Quellen eingingen. Hier ein Beispiel meiner Zusammenfassung (aus einer Fußnote, die mich 6 Stunden Arbeit gekostet hat…):

The leftist “orthodox”—and prevalent—school, which examined the historical record from the axiom that US involvement in the war was a mistake, and the “revisionist” school, which disputed this claim. Marilyn Young is a classic representative of the orthodox school. For a general introduction to American involvement in Vietnam, written from the orthodox perspective, see James Stuart Olson and Randy Roberts, Where the Domino Fell: America and Vietnam, 1945 to 1990 (New York: St. Martin’s Press, 1991). Olson and Roberts argued that American policy fell victim to its own ignorance of the nature of the Vietnamese anti-colonial struggle, which led to a mistaken assessment of the war as a struggle against communism, rather than colonialism. Former Marine Corps University professor Mark Moyar (Triumph Forsaken: The Vietnam War, 1954-1965, Cambridge 2006) is a representative of the revisionist school. Mark Atwood Lawrence has also contributed a helpful, compact introduction to the war, though largely written from an American perspective (The Vietnam War: A Concise International History, Oxford 2008). Moving away from a US-centrist assessment of the conflict, and beyond the bounds of the orthodox/revisionist schools, a number of scholars …

Nicht immer ist ein Buch Teil einer „Schule“ – aber wenn dies der Fall ist, sollte das auf jeden Fall erwähnt werden und in einem Einleitungssatz jede Schule kurz vorgestellt werden.

Weniger ist mehr!

So hast du jetzt dein Word- oder Exceldokument, in dem du dir alle wichtigen Infos notierst hast. Nun geht es daran, den Forschungsüberblick zu schreiben.

Jetzt ist die Versuchung groß, es zu übertreiben. Wenn ich mich erst einmal so richtig in mein Thema vertieft habe, will ich unbedingt zeigen, was ich alles gelesen hat und Kapitel für Kapitel jedes Buch, durch das ich mich mühsam gearbeitet habe, zusammenzufassen! Dabei ist die Kür genau das Gegenteil: Kurz und knackig wiederzugeben, was es an Forschung in meinem Feld gibt, die großen Namen, ihre Werke und gegebenfalls die Debatten, in denen sie entstanden zu nennen und kurz zusammenzufassen, worin ihr Beitrag besteht. Bei einer 300-seitigen Dissertation finde ich 3-5 Seiten völlig ausreichend für einen Forschungsüberblick. Wie schaffe ich das? Indem ich jedes Werk in ein, maximal zwei Sätzen mit den o.g. Infos vorstelle – in chronologischer Reihenfolge, denn in der ist meistens auch die Debatte abgelaufen. Noch ein Beispiel:

Jacques Kornberg provides a deeper examination of Breira in “Zionism and Ideology: The Breira Controversy.” Kornberg places Breira within the post-1967 situation, both in Israel and in the Diaspora and questions whether criticizing Israeli policy is detrimental to Israel.**

Name, Buch, Untersuchungsgegenstand und Argument – in zwei Sätzen! Fußnote mit Literaturverweis dran oder in Klammern dahinter, und gut ist. Und das beste ist: Ich brauche das Buch (theoretisch) dafür nicht einmal gelesen zu haben.

Herzlichen Glückwunsch! Jetzt steht dein Forschungsüberblick und du kannst dich endlich, endlich deinen eigenen Forschungsfragen widmen. Viel Spaß dabei!

Habt ihr noch weitere Tipps, schnell und effizient einen guten Forschungsüberblick zu schreiben?

 

*Das sind die Datenbanken, die in der englischensprachigen Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften federführend sind. In Deutschland enthalten häufig auch die Suchmasken eurer Universitätsbibliothek Zeitschriftenartikel.

** Herzlichen Dank an Allie Brudney, aus deren Arbeit zur jüdischen Breira-Bewegung ich dieses Zitat entwenden durfte.

8 thoughts on “Wie schreibe ich schnell einen guten Forschungsüberblick?”

  1. Danke! Wenn man panisch vor seiner Online-Bib sitzt und nicht weiß, wo man mit seiner Arbeit anfangen soll, dann ist ein Artikel in beruhigender Sprache (keine Sorge, du schaffst das schon) und guten Tipps (und hier ist, wie) genau das, was man braucht!

  2. Guter Artikel, danke! Mir wurde leider nur nicht klar, wie ihr es dann mit dem Zitieren/Paraphrasieren von Reviews handhabt. Die Übernahme fremder Gedanken müsste ja dann auch in einem Forschungsüberblick erkenntlich gemacht werden, sprich entsprechende Reviews zitiert oder paraphrasiert werden. Wenn ich in einem Forschungsüberblick erwähnte Werke selbst nicht gelesen habe, dann sind das ja im Grunde genommen fremde Gedanken und somit belegpflichtig. Richtig? Kann also passieren, dass sich der Forschungsüberblick am Ende hauptsächlich aus Zitaten und Paraphrasen zusammensetzt.

    1. Ja, das ist in der Tat eine kniffelige Frage. Ich persönlich halte es so, dass ich die Reviews für Inhaltsangaben nutze und dafür dann das Original (also das Buch, das rezensiert wird) zitiere, insofern die Rezension sozusagen nur Gedanken aus dem Buch zusammengefasst wiedergibt. Da liegt die wissenschaftliche Leistung in erster Linie ja bei dem/der Autor:in des Buches, nicht beim Rezensenten. Wenn der/die Rezensentin etwas bemängelt, kritisiert, etc., würde ich tatsächlich die Review zitieren, weil jetzt die wissenschaftliche Leistung beim Rezensenten liegt (aber dann paraphrasiert, sonst wird es zu komplex). Aber ja, so ein Forschungsüberblick ist ja ohnehin ziemlich fußnotenlastig und besteht im Wesentlichen aus der Wiedergabe fremder Gedanken, die man selbst ordnet und ggf. kommentiert. Hoffe, das hilft!

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